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Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M. im Porträt

Ich verstecke meine Ideale nicht.

Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M., Richterin des Bundesverfassungsgerichts a.D. und Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt Universität Berlin, über Chancen und Hindernisse auf ihrem Weg in die Wissenschaft, Feminismus und ihre Rolle als Richterin am Bundesverfassungsgericht.

Frau Baer, Sie haben eine umfangreiche wissenschaftliche Karriere hinter sich mit Promotion, LL.M. und Habilitation, schließlich der Berufung an die Humboldt Universität Berlin. Wollten Sie schon immer Professorin werden und Studierende unterrichten?

Professorin zu werden war ein Traum, von dem ich nicht glaubte, dass er sich realisieren würde. Allgemein waren die Aussichten ja trübe: Ich gehöre zum in Deutschland geburtenstärksten Jahrgang und in der Zeit von Schule und Studium gingen viele davon aus, dass die neuen Risiken der Kernkraft und das Wettrüsten eine Zukunft ohnehin zunichte machen würden. Daraus ergab sich allerdings auch eine Perspektive, die – wenn auch nicht gerade optimistisch – lautete „Ich kann machen, was ich will."

Im Jurastudium begegnete mir dann mit Ausnahme von Frau Limbach keine Professorin. In den Politikwissenschaften war nicht nur das anders, sondern da gab es andere Perspektiven, spannendere Studierende und mehr Nähe zu aktuellen Problemen. Und dort fand ich erste Angebote in den Geschlechterstudien, international, interdisziplinär und spannender als die juristische Lehre. Die Wissenschaft – das war also der Traum. Ich ahnte, dass das ein immer aufregender Beruf ist und die Vermittlung von Wissen, vor allem das gemeinsame Denken, etwas Tolles.

Letztlich wollte ich das Feld des Juristischen aber nicht „den anderen“ überlassen. Mich trieb auch um, dass eine der wichtigsten Machtressourcen doch nicht ewig nur strukturkonservativ vermittelt werden dürfe, mit zu wenig Blick auf die gesellschaftliche Realität. Also habe ich es versucht. Von außen wirkt mein Weg zur Professorin aber sehr viel geradliniger als er in Wirklichkeit war.

Können Sie das konkretisieren? Mit welchen Hindernissen waren Sie auf Ihrem Weg konfrontiert?

Da gibt es natürlich mehrere Aspekte. Ich kam und komme mit elitärer Konkurrenz nicht gut klar – sie nervt mich, sie ist unproduktiv. Ich fühlte mich im Studium an der Juristischen Fakultät also nicht selten fremd und unwohl, was kein guter Arbeitskontext ist. Und später hat mich die Herablassung, wie über andere Ansätze im Denken gesprochen wurde, oft sehr gestört. Dann war da die Erfahrung mit den Examina… höchst ambivalent. Insbesondere die mündlichen Prüfungen sind oft problematische Rituale.

 

Der erste echte Rückschlag war dann wohl der Versuch, eine Promotionsbetreuung zu ergattern. Mein Exposé wurde abgeschmettert – und in dem Brief fragte mich der Professor, wieso ich mir die Arbeit überhaupt zutraue. Über Artikel 3 GG zu schreiben. Nun ja. Das hat mich jedenfalls eingeschüchtert. Also habe ich zunächst mein Referendariat gemacht und danach nochmal begonnen. Mit einem eher verzweifelten Brief an Professor Simitis in Frankfurt, von dem es hieß, er sei auch für feministische Forschung offen. Ich traf ihn und später auch Professor Denninger zum Gespräch, forschte nicht zuletzt auch bei und mit Anwältinnen, kämpfte mich durch. Es hat geklappt.

Persönliche Entwicklungen sind ja immer abhängig von Zeit und Kontext. In Berlin – im Westen – gab es ein sehr politisches, aktivistisches Umfeld, mit Umwelt- und Häuserkampfbewegung, mit großen Demonstrationen, mit Bürgerrechtsdebatten. Die Fragen, die dort aufkamen, wurden aber im Jurastudium kaum adressiert. Deshalb gründeten wir eine „politische Prozessgruppe“ – um in die Gerichte zu gehen und zu verstehen, was genau da eigentlich läuft. Und wir haben ein Seminar selbst organisiert, mit einem Block zu feministischer Rechtswissenschaft – das war damals völlig neu.

Woran können junge Juristinnen erkennen, dass Sie für die Wissenschaft und eine etwaige Laufbahn an der Universität geeignet sind?

Es ist wichtig, gern zu denken, zu recherchieren, zu sprechen und zu schreiben, also: zu forschen. Es braucht viel intrinsischen Antrieb, lernen zu wollen. Und echte Neugierde. Wer also promovieren will, aber eigentlich keine eigene Fragestellung hat – da wäre ich vorsichtig mit dem Ziel „Wissenschaft“. Noch wichtiger ist es aber meines Erachtens, ins Gespräch kommen zu wollen. Das sollte auch die Haltung zur Lehre prägen. Es erschüttert mich oft, wenn Lehre nur als Belastung erlebt wird. Klar – da ist im Moment zu viel Bürokratie gefordert. Aber Lehre ist für Wissenschaft meines Erachtens zentral. Zur Eignung gehört dann ganz sicher auch, hohe und oft unvorhersehbare Belastungen gut leben zu können, eher in Chancen als in Problemen zu denken, und auch persönlich ziemlich flexibel zu sein.

Sie haben sich in Ihrer Promotion mit dem Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz beschäftigt, feministische Rechtstheorie gelehrt, haben das GenderKompetenzZentrum zur Beratung der Bundesregierung geleitet und haben eine Professur u.a. für Geschlechterstudien inne. Woher stammt Ihr Interesse an Gleichheits-, Diskriminierungs- und Genderfragen?

Manchmal erstaunt mich die Frage – es geht doch um Gerechtigkeit! Da hatte ich schon ganz früh eine ziemlich deutliche Haltung. Ungerechtigkeit finde ich schlicht unerträglich; die muss nicht sein, die darf auch nicht sein. Erste Erfahrungen in der Genderforschung konnte ich dann am Otto-Suhr-Institut (OSI) der FU Berlin sammeln – dort gab es die erste Gastprofessur für, damals: Frauenforschung, also feministische Ansätze, kritisch reflektiert. Mich faszinierte vor allem die anspruchsvolle Theorie. Das war kompliziert und kritisch; es stellte den Kanon in Frage und hohe Ansprüche an sich selbst. Diese Mischung faszinierte mich.

Die Frage der Fairness blieb erhalten. Ich hätte die Berührung mit Diskriminierungsthemen in meinem Leben zwar damals so nicht bezeichnet. Aber Ungerechtigkeiten erschienen mir nie plausibel. Es hat mich selbst immer geärgert, vorschnell in eine Schublade gesteckt zu werden, weil ich z.B. da und da wohne, so oder so aussehe, ein Mädchen oder eine Frau bin, usw. Und bei anderen ging mir das genauso. Das Private ist immer politisch, sagt der Feminismus. Und das stimmt. Auch die Themen, zu denen Menschen forschen, haben sehr oft eine persönliche Komponente. Das wird nur bei Frauen und erst recht in der Genderforschung als subjektiv denunziert. Es ist aber bei allen ein Faktor.

Frauenbewegung, mit sehr unterschiedlichen Gruppen, Orten, Denkweisen, Aktionen. Feministische Fragen sind dann nicht so besonders – sie gehören dazu. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, trifft auf diese Fragen – und die wollte ich verstehen. Sie könnten also sagen „It came naturally to me“.

Was bedeutet für Sie Feminismus und wo steht die Gender-Forschung heute?

Zunächst einmal habe ich den Eindruck, dass der Feminismus seit einigen Jahren mit voller Kraft zurück ist. Noch genauer: Die Frauenfrage – als Frage nach der Verletzbarkeit und den Verletzungen, die immer noch und immer wieder an der Weiblichkeit andocken – wird wieder klargestellt. Und gerade junge Frauen positionieren sich heute wieder offensiv als feministisch, setzen sich für tatsächliche Chancengleichheit ein, nutzen den Begriff Feminismus positiv.

Allerdings ist Feminismus auch schwer unter Druck. Da gibt es einerseits von außen die schlichte Verteidigung von männlichen Privilegien, und auch das ist wieder deutlicher zu hören, auch aggressiver. Hier treiben Evangelikale und Rechtspopulisten, international gut vernetzt und erschreckend gut ausgestattet, eine letztlich frauenfeindlich-patriarchale Agenda voran. Und nicht wenige, die endlich auch mal was zum – und eigentlich gegen – Feminismus sagen wollen, greifen diese Stimmungsmache auf. Andererseits gibt es auch innerhalb des Feminismus und der Genderstudien Auseinandersetzungen, die es nicht leichter machen. Das war zwar schon immer so – ich kenne kaum eine Materie, in der es so selbstreflexiv kritisch zugeht wie in den Geschlechterstudien. Das ist gut, aber auch anstrengend, es stärkt und schwächt zugleich. Heute betrifft es die Frage, ob und was im Feminismus in einem politischen Sinne weiß und insofern privilegiert ist, mit der Diskussion, ob die Frage nach gender durch die Frage nach race zu ersetzen ist. Und aktuell ist nicht nur kontrovers, sondern auch sehr aufgeladen, wie Geschlecht eigentlich sinnvoll gefasst werden muss, um wirklich emanzipatorisch denken und handeln zu können, in der Auseinandersetzung mit Transidentitäten. Da wird bestenfalls nach Antworten gesucht, aber oft auch verletzend gestritten. Nicht vergessen: Auch hier steht das Private immer mit auf dem Spiel.

Feminismus ist und bleibt damit Thema. Und heute gehört es dazu, genauer zu differenzieren, „intersektional“ oder, darüber denke ich im Antidiskriminierungsrecht nach, „postkategorial“ zu denken. Also nicht nur: Frauen werden benachteiligt, sondern: Sexismus. Denn im Kern fragt sich doch immer noch: Wie viel sexistische Diskriminierung akzeptiert die Gesellschaft – und wie lässt sich das beenden?

Wie können die nachkommenden jungen Juristinnen den feministischen Prozess positiv unterstützen?

Meine Antwort ist eher kurz: Sich nicht abschrecken lassen, den Humor behalten und zusammenarbeiten. Denunziationen – heute mit den Labels „PC“ oder „Cancel Culture“ oder „wokeness“ – gab es immer. Es sind politische Strategien, die mundtot machen sollen. Sie sind heute medial beschleunigt und verstärkt. Aber umso mehr gilt es, sich nicht abschrecken zu lassen. Es war schon immer anstrengender, emanzipatorisch unterwegs zu sein; Feminismus ist keine Wellness-Veranstaltung. Junge Juristinnen müssen also damit rechnen, dass sie mit Klischees bedacht werden – „zickig“, „humorlos“, „anstrengend“ – aber mit Humor und gemeinsam lässt sich da auch etwas entgegensetzen.

Für die Rechtswissenschaft und für die jungen Juristinnen gilt außerdem: Das Wissen um Recht und die juristischen Sekundärkompetenzen, also z.B. strukturiert argumentieren zu können, sind gerade für die sozialen Kämpfe um Anerkennung, um Gerechtigkeit, sicher auch: um Zukunft, sehr viel wert, letztlich unverzichtbar. Insofern ist die Bereitschaft, diese Ressource für soziale Bewegungen zur Verfügung zu stellen, eine sehr gute Idee.

Schließlich können junge Juristinnen im eigenen Kontext, also Studium, Referendariat, Promotion oder Beruf, selbst einfordern, dass echte Gleichberechtigung zählt. Jede kann an ihrem Ort etwas tun, manchmal im Kleinen, manchmal mit mehr Effekt. Das Wichtigste ist, nicht ins Schweigen zu gehen, solidarisch zu bleiben und gemeinsam weiterzukommen.

Sie bringen hohe Ideale mit. Glauben Sie, dass der gewählte Beruf notwendig mit dem eigenen Wertekanon im Einklang stehen muss, um beruflich erfolgreich zu sein?

Tue ich das? Ich denke eher, ich verstecke meine Ideale nicht. Und ich habe glücklicherweise einen Beruf gefunden, in dem ich mich für genau diese Ideale einsetzen kann. Das Ideal darf zwar nicht zum perfektionistischen Anspruch an das eigene Verhalten werden. Rigidität ist exklusiv, nicht inklusiv, passt also nicht. Aber der Versuch, im Einklang mit den immerhin ja auch menschenrechtlichen Werten und mit doch immerhin weltweit bekannten ethischen Grundvorstellungen zu handeln, scheint mir schon wichtig. Und auch als ein wichtiger Faktor bei beruflichen Entscheidungen. Wird das ein Kontext sein, in dem ich meine Ideale ein Stück weit leben kann, also mich nicht verrate, verkaufe oder verbiegen muss? Und werde ich dazu beitragen können, dass diese Ideale nicht nur für mich funktionieren, sondern ich damit einen Beitrag leiste, dass das auch für andere geht? Werte sollten also eine Rolle spielen, ja.

Sie arbeiteten bis vor Kurzem hauptamtlich als Richterin des Bundesverfassungsgerichts. Hat diese Tätigkeit in einem der höchsten juristischen Ämter in unserem Staat Sie verändert? Wenn ja, inwiefern?

Das werden Sie andere fragen müssen! Ich habe den Eindruck, dass gerade in so einem sehr arbeitsintensiven Amt, das mit immer wieder neuen Erfahrungen verbunden ist, die Möglichkeit erschwert ist, sich selbst aus einer gewissen Distanz heraus zu reflektieren. Zeit und Raum dafür fehlen einfach. Vielleicht gelingt mir das in Zukunft.

Was ich aber sagen kann: Die Tätigkeit als Verfassungsrichterin selbst ändert sich. Das gilt schon aufgrund der zunehmenden internationalen Bezüge, aufgrund der weiter hohen Fallzahlen, mit der Intensität, in der wir Fälle bearbeiten, und wegen des Umfelds, einschließlich der Medien und der Wissenschaft, und auch der Politik. Für mich war das eine steile Lernkurve im Amt. Prägend waren auch die vielen bereichernden Begegnungen. Und die sehr enge Zusammenarbeit insbesondere mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, und die von den eigenen Vorstellungen und Werten sehr weit weg sein können. Das geschah in Karlsruhe in einer eindrücklichen Freundlichkeit, ja: auch Wertschätzung.

Ich würde mich also wundern, wenn ich mich nicht verändert hätte. Bereichert hat es mich auf jeden Fall.

Sie haben mehrfach in der Öffentlichkeit betont, dass Sie sich noch nie so wohl an einem Arbeitsplatz gefühlt haben wie als Richterin am Verfassungsgericht. Wieso ist das so?

Zu den Besonderheiten der Erfahrung im Amt als Bundesverfassungsrichterin zählt für mich eine Mischung aus Bedächtigkeit – also einem wirklich suchenden Nachdenken über ziemlich komplizierte Fragen in dem Wissen, dass man das wirklich und mit allen Konsequenzen entscheiden muss, – und dieser sehr speziellen Form der wertschätzenden Kollegialität in der Arbeit am Konsens. Das Bundesverfassungsgericht ist da schon außergewöhnlich. Es gibt dort zum Beispiel kein „der ist schlauer“ oder „der ist älter“, sondern eine in gewisser Weise unhierarchische Zusammenarbeit. Die wechselnden Kammerbesetzungen motivieren auch, dass sich niemand etwas mit jemandem verscherzen will. Und weil „draußen“ so viele andere überzeugt werden müssen, haben alle ein Ziel: Die Entscheidung auf wirklich gut durchdachte und gut formulierte, stichhaltige Argumente zu stützen. Wir diskutieren wirklich über jedes Wort und jedes Komma.

Für mich gehört auch dazu, dass sich im Alltag die Sinnfrage schlicht nie stellt. Das sind jeden Tag zehn oder 20 Akten auf dem Tisch – und das heißt: Da fragen Menschen, ob sie gerecht behandelt worden sind. Das sind Schicksale, da werden Nöte beschrieben, oft tragisch. Es ist viel mehr wahres Leben im Gericht als ich mir das vorher hätte vorstellen können.

Zudem ist natürlich nicht unwichtig, dass es ein so hohes Amt ist. Frauen sind ja oft darauf trainiert, daraus keine Angebernummer zu machen. Und wer auf solche Positionen nicht abonniert ist, macht sich vielleicht noch klarer, welche Verantwortung, aber auch welche Macht und welche Privilegien damit einhergehen. Ich war als Richterin oft die Person mit dem höchsten protokollarischen Status im Raum. Was das bedeutet, will – oder sollte jedenfalls – gelernt sein. Mit der Rolle umzugehen war für mich jedenfalls nicht immer einfach. Es ist ein Privileg, aber auch eine Herausforderung.

Was machen Sie, wenn Ihnen mal alles zu viel wird?

 

Den jungen Juristinnen würde ich sagen: Schauen Sie sich um, welche Mechanismen Leute nutzen, denen Entspannung und Entlastung leicht zu fallen scheint. Termine können auch mit einem Mittagessen verbunden werden, was dann vielleicht weniger Stress heißt. Treffen Sie Menschen, die gut tun, mit denen sich der Kopf lüften lässt. Oder: Dinge machen und Dinge pflegen, die ganz anders sind als der Beruf – laufen, singen, malen, was auch immer. Es ist wichtig, sich davon abzuhalten, im Arbeitswahn zu ertrinken. Den Dauerstress schafft keiner. Es hilft nicht, sich ständig Vorwürfe zu machen, dies oder jenes nicht geschafft zu haben. Und privat ist wirklich hilfreich, wenn die Menschen nicht unkritisch sind, aber unbedingt wohlwollend. Also: Sich gut verankern in der Welt, darum geht es wohl.

Von der „Financial Times Deutschland“ wurden Sie nach Ihrer Nominierung als Verfassungsrichterin zur „Prof. Dr. Ungewöhnlich“ getauft. Gehen Sie da mit? Oder finden Sie sich selbst gar nicht so ungewöhnlich? Muss man vielleicht sogar ein wenig ungewöhnlich sein, um Dinge zu verändern?

Als ich die Überschrift damals sah, wusste ich nicht recht, wie ich das finden soll. Tatsächlich war es für viele äußerst überraschend, dass ich zur Richterin gewählt worden bin. „So jemand wie ich“. Das hat aber auch etwas Beleidigendes. Was heißt das denn: „So jemand wie Sie?“ War das Richteramt für mich so abstrus, ich so unqualifiziert? Gemeint war damit ja fast immer nur: eine lesbische Frau, eine radikale Feministin. Es lohnt sich nachzufragen, was denn so ungewöhnlich ist. In meinem Fall gab es da durchaus auch diffuse Ängste, Vorurteile eben, ein Stigma. Wenn da so eine lesbische Feministin kommt …, da würde es wohl ungemütlich werden. Das war die Angst. Damit musste ich und muss ich weiterhin umgehen. Und eine Reaktion ist: nachfragen. Für mich bedeutete das auch, über mein Privatleben zu sprechen, und da den richtigen Ton zu finden, die Schubladen zu vermeiden, sich nicht zu weit zu öffnen, wo kein Vertrauen ist, aber weit genug, um Vorurteile zu zerstreuen – das ist anstrengend.

Als wir – also meine Frau und ich – entschieden haben, dass ich bereit bin, mich zur Wahl vorschlagen zu lassen, haben wir auch entschieden, dass dieser Teil dazu gehört. Wenn ich da nicht offen bin, wer dann? Wer abhängig ist von anderen, setzt sich ganz anderen Risiken aus als denen, die ich zu fürchten hatte. Dieser Offenheit bin ich dann treu geblieben. Wenn ich damit erreiche, ein Stück weit mehr und bei mehr Menschen die Bereitschaft und Fähigkeit im Umgang mit Diversität und sexueller Orientierung zu schaffen, dann macht mich die damalige Überschrift heute vermutlich sogar stolz.

Es wird gerade viel über das Thema „geschlechtergerechte Sprache“ debattiert. Sie haben sich schon früh für eine geschlechtergerechte Sprache in den Entscheidungen der Gerichte ausgesprochen. Können Sie das näher erläutern?

Wir sind in der Justiz ja Spracharbeiter*innen – wir müssen auf Sprache Wert legen. Die Sprache formt, was wir als Wirklichkeit erleben. Daher habe ich in meiner Amtszeit versucht, minimalinvasiv auch Entscheidungen des Verfassungsgerichts geschlechtergerecht zu formulieren. Und das habe ich so auch erklärt: Ich werde versuchen, die Texte nicht grässlich werden zu lassen, aber auch nur im Notfall akzeptieren, dass es nicht geht, auch Frauen zu adressieren, oder dass es wirklich ein Verständnis in der Sache verbiegt. An vielen Stellen ist es gelungen, andere zu überzeugen. Es macht ja auch keinen Sinn, nur „den Beschwerdeführer“ zu kennen, wo es doch „Beschwerdeführende“ gibt, und nicht nur „den Richter“, sondern – präziser – „am Gericht im Spruchkörper Tätige“. Sternchen, Unterstriche oder ähnliches finden sich da nicht. Aber realistische Formulierungen. Wenn Jurist*innen darauf keinen Wert legen, dann weiß ich ehrlich nicht, was ihnen wichtig ist, denn wir haben nur Sprache. Recht ist Text. Wir müssen uns also alle Mühe geben, auch da gerecht zu sein.

 
Man findet Sie inzwischen auch auf der Homepage des Ensembles des sozialistisch-realistischen Maxim Gorki Theaters in Berlin. Spielen Sie neuerdings auch Theater?

(lacht) Das Gorki hat eine Gesprächsreihe im Programm, bei der verschiedene Leute auf die Bühne gesetzt werden, die miteinander diskutieren. Das durfte ich mit Can Dündar, einem türkischen Journalisten. Für mich war das eine Chance, und diesen Vormittag werde ich nicht vergessen. Auf einer Bühne, mit Theaterpublikum, mit einem spannenden Intellektuellen, zu einem wichtigen Thema – das macht auch Spaß. Später konnte ich mit der polnischen Regisseurin Marta Gornicka arbeiten, die das Grundgesetz in chorischer Form einem „Stresstest“ unterzogen hat. Das war großartig! In einer künstlerischen Form lässt sich ja auch zeigen, was Recht und Gerechtigkeit sind – oder sein sollten.

Welche Juristin hat Sie so inspiriert, dass sie als Vorbild für breaking.through nominiert werden sollte? Wieso?

Catharine MacKinnon war als Philosophin, Mentorin und Beraterin für mich sehr wichtig. Zugleich und ganz anders waren das auch Lore Maria Peschel-Gutzeit oder Jutta Limbach oder Heide Pfarr. Ein Vorbild setzt sich für mich wohl immer aus Teilen verschiedener Menschen zusammen. Also kein Thron, als perfektionistische Ikonografie. Aber fantastische, bereichernde, inspirierende Begegnungen. Dazu gehören in den letzten Jahren für mich auch Ruth Bader Ginsburg und Sonia Sotomayor aus den USA oder Rosalie Abella aus Kanada. Sie formen einen Quilt, eine Patchworkdecke, in die ich mich manchmal hüllen kann.

Vielen Dank für das spannende Interview!

Berlin, 7. Mai 2023. Das Interview führte Alicia Pointner.

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